Beispiel HIV

Aus Nuevalandia
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Ein Ausschnitt des Artikels von Oliver Moldenhauer und Katrin Hünemörder aus Wem gehört die Welt:

Fehlender Zugang zu Medikamenten[Bearbeiten]

An der (fehlenden) Behandlung für Millionen HIV-Infizierte in ärmeren Ländern wird besonders deutlich, welche massiven Nachteile das aktuelle Patentsystem hat. Eine HIV-Infektion ist derzeit nicht heilbar, aber dank lebensverlängernder sogenannter antiretroviraler Medikamente kann die Krankheit aufgehalten werden. Diese antiretroviralen Medikamente finden einen Markt in den reichen Ländern, so dass es für die Industrie einen Anreiz gibt, sich dort zu engagieren. Hinzu kommen noch substantielle öffentliche Forschungsmittel.

Die Weiterentwicklung von HIV/Aids-Medikamenten ist daher weitgehend gesichert (außer für spezifische Medikamente für die Bedürfnisse von ärmeren Ländern, z.B. Medikamente für Kinder und Schwangere).

Das Problem bei der Behandlung von HIV/Aids ist also weniger mangelnde Forschung als vielmehr der Zugang zu bereits existierenden und erprobten Medikamenten. Ein Zugang, der im Zuge der Verschärfung des Patentrechts aufgrund internationaler Handelsabkommen immer schwerer wird. So laufen die Übergangsfristen des WTO-Abkommens zu geistigem Eigentum ("TRIPS-Abkommen") in immer mehr Ländern aus, so dass dort Medikamente unter Patentschutz gestellt werden müssen.

Die große Mehrheit der HIV-Infizierten und Aids-Kranken leben in den ärmeren Ländern, vor allem im südlichen Afrika. Von circa zehn Millionen HIV-Infizierten in Entwicklungsländern, die eine antiretrovirale Therapie bräuchten, erhalten sie derzeit ungefähr drei Millionen. Das ist immerhin rund ein Drittel und wesentlich mehr als noch vor wenigen Jahren, bedeutet aber immer noch den unnötigen Tod von Millionen Menschen.

Generikaproduktion senkt Medikamentenpreise[Bearbeiten]

Dass überhaupt so viele Menschen derzeit Behandlung erhalten, liegt zu großen Teilen an den gesunkenen Preisen der Medikamente der ersten Behandlungslinie. Durch Wettbewerb in der Generikaproduktion hauptsächlich indischer Hersteller ist es gelungen, den Preis für diese Behandlungslinie von rund 10.000 Dollar pro Jahr und Patient im Jahr 2000 auf 99 Dollar pro Jahr und Patient im Jahr 2007 zu senken. Nationale Gesundheitsprogramme in Entwicklungsländern und von Hilfsorganisationen sind damit besser in der Lage, diese Medikamente zu erwerben und zu verteilen. Generikaproduktion ist normalerweise nur in Ländern möglich, in denen kein Patent auf das Originalpräparat existiert, oder wenn von den Patentinhabern freiwillige Herstellungslizenzen erteilt werden.

Ist dies nicht gegeben, bleibt einer Regierung noch die Möglichkeit, Zwangslizenzen zu erteilen: Im TRIPS-Abkommen, dem Abkommen zu handelsbezogenen Aspekten des geistigen Eigentums der Welthandelsorganisation (WTO), ist vorgesehen, dass eine Regierung zum Schutz der öffentlichen Gesundheit Zwangslizenzen für Medikamente erlassen kann. Eine Produktionszwangslizenz erlaubt die lokale Herstellung, die Importzwangslizenz den Import aus einem Land mit entsprechender generischer Produktion. Die Exportzwangslizenz erlaubt die Produktion eines Medikaments, die explizit für den Export in ein bestimmtes anderes Land vorgesehen ist. Dass in Indien Medikamente der ersten Behandlungslinie billig hergestellt werden können, liegt daran, dass auf diese Medikamente in Indien keine Patente vergeben sind, da sie noch vor der Gründung der Welthandelsorganisation erfunden wurden.

Zugang zu neueren Therapien durch Patente bedroht[Bearbeiten]

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt mittlerweile aber eine neuere Therapie, die auf dem Wirkstoff Tenofovir beruht und weniger Nebenwirkungen hat. Für diesen Wirkstoff wurde von der amerikanischen Firma Gilead in Indien ein Patent beantragt. Gestellte Patentanträge für Tenofovir verhindern, dass die Generika-Hersteller mit voller Kraft investieren und in die Massenproduktion einsteigen können. Denn sobald ein Patent erteilt ist, könnte die Produktion von Generika gestoppt werden. Der Preis für die Kombinationstherapie Tenofovir/Emtrizitabine/Efavirenz (TDF/FTC/EFV) liegt nach Verhandlungen der gemeinnützigen Clinton-Foundation mit Generika-Herstellern bei derzeit 385 Dollar pro Jahr und Patient. Das ist fast das Vierfache des Preises für die herkömmliche Behandlung. In einigen Jahren werden die meisten Menschen, die heute die antiretrovirale Therapie der ersten Behandlungslinie erhalten, auf die sogenannte zweite Behandlungslinie umgestellt werden müssen. Das ist notwendig, da sich aufgrund der Behandlungsdauer Resistenzen entwickeln oder zu starke Nebenwirkungen auftreten. In der Regel sind diese Medikamente neuer und daher häufig patentgeschützt. Auf das derzeit wichtigste Medikament der zweiten Behandlungslinie, die hitzestabile Kombination Lopinavir/Ritonavir (LPV/r, Markennamen Kaletra®/Aluvia®) des amerikanischen Pharma-Riesen Abbott, läuft ebenfalls ein Patentantrag in Indien. Hitzestabilität ist insbesondere für tropisches Klima unerlässlich, da es häufig keine Kühlmöglichkeiten gibt. Zwar wird das hitzestabile LPV/r derzeit von einer indischen Firma generisch hergestellt, aber durch die unklare Patentsituation geschieht dies nur mit angezogener Handbremse.

Somit liegt gegenwärtig (2008) der Preis für LPV/r selbst als Generikum bei einem Vielfachen der gesamten ersten Therapielinie – und ist somit unbezahlbar für arme Menschen. Neben der dringend notwendigen Preissenkung für die hitzestabile Form von LPV/r muss zukünftig der darin enthaltene Wirkstoff Ritonavir auch einzeln hitzestabil verfügbar sein. Wird der Wirkstoff dann mit anderen Wirkstoffen (beispielsweise Atazanavir) kombiniert, könnte das den Preis erheblich senken. Abbott jedoch behauptet, dass es technisch nicht möglich sei, hitzestabiles Ritonavir zu produzieren. Doch viele Beobachter vermuten, dass die Nichtverfügbarkeit von hitzestabilem Ritonavir kein (rein) technisches Problem ist, da Abbott massiv davon profitiert, dass die Kombination Lopinavir/Ritonavir (LPV/r) die derzeit einzige hitzestabile Kombination ihrer Wirkstoffklasse auf dem Weltmarkt ist.

TRIPS-Flexibilitäten in vollem Umfang ausschöpfen[Bearbeiten]

Die thailändische Regierung erließ im Jahr 2006 Zwangslizenzen für zwei HIV/Aids-Medikamente und ein Herz-Kreislauf-Medikament. Darunter auch für LPV/r, nachdem die Verhandlungen der thailändischen Regierung mit Abbott über eine Preissenkung des Originalpräparats gescheitert waren. Abbott verlangte für LPV/r 2200 Dollar pro Jahr und Patient von Ländern mit mittlerem Einkommen wie Thailand. Der Streit um das Patent eskalierte. Abbott zog aus Protest gegen die Zwangslizenzen die Zulassungsanträge für sieben weitere Abbott-Medikamente zurück. Diese stehen thailändischen Patienten nun nicht zur Verfügung. Ein groß angelegter Protest durch Nichtregierungsorganisationen gegen diese "Geiselnahme thailändischer Patienten" seitens Abbott führte dazu, dass der Konzern seine Preispolitik für LPV/r änderte. Länder mittleren Einkommens erhielten nun erstmals das Angebot, das Medikament für 1000 Dollar pro Jahr und Patient zu kaufen. Die am wenigsten entwickelten Länder der Welt können LPV/r von Abbott für 500 Dollar pro Jahr und Patient erhalten. 2007 lag dieses Angebot für Länder mittleren Einkommens tatsächlich unter dem Generika-Preis. Die hitzestabile Form von LPV/r wurde vom indischen Generika-Produzenten Matrix für 1034 Dollar pro Jahr und Patient angeboten. Durch Verhandlungen der Clinton-Foundation mit dem Hersteller ist der Preis im April 2008 für eine beschränkte Gruppe von Ländern allerdings auf 550 Dollar pro Jahr und Patient gefallen. Thailand bezieht sein LPV/r aufgrund der erteilten Zwangslizenz für diesen Preis nun aus Indien. Die sieben anderen Abbott-Medikamente, deren Zulassung vom Konzern zurückgezogen wurden, sind bis heute in Thailand nicht verfügbar.

Statt Thailand und vor allem den Patientinnen und Patienten, die dringend bezahlbarer Behandlung bedürfen, in dieser Auseinandersetzung beizustehen, warnte der EU-Handelskommissar Peter Mandelson im Sommer 2007 die Regierung schriftlich vor der Erlassung weiterer Zwangslizenzen. Obwohl Thailand völlig gesetzeskonform im Rahmen des TRIPS-Abkommens gehandelt hatte, fand sich die Regierung plötzlich zusätzlich politischem Druck ausgesetzt. Glücklicherweise gibt es aber auch Unterstützung aus der Politik für die Erteilung von Zwangslizenzen, z.B. von einigen deutschen Parlamentariern aller Fraktionen oder von der deutschen Entwicklungshilfeministerin.

Das Problem des Zugangs zu geeigneten Therapien für HIV/Aids zeigt sehr deutlich, warum zumindest für die Bedürfnisse der Entwicklungs- und Schwellenländer endlich ein neues, alternatives System der Forschungsfinanzierung nötig ist: ein System, bei dem die Forschung und Entwicklung nicht durch hohe Produktpreise refinanziert wird, sondern dass die Ergebnisse öffentlicher Forschung prinzipiell als Gemeingut (bzw. freie Lebensgrundlagen) betrachtet und die Zugangsbarrieren für Medikamente aus Gründen der Gerechtigkeit so gering wie möglich hält.

Beispiele dazu: Freies Wissen

Dieser Ansatz steht der gegenwärtigen Tendenz der Monopolisierung von Forschungsergebnissen, der (willkürlichen) Monopolpreisgestaltung durch Patentinhaber und der Privatisierung von Wissen diametral gegenüber (s.monopolisiertes Wissen).