Selbstorganisation bei SEMCO
Ein Beispiel für eine Peer-Prozessorganisation ist die Firma Semco aus Brasilien. Helmut Reinhardt schreibt dazu:
Firmengründer Ricardo Semler beschreibt in seinem Buch, das schon 1995 im Heyne Verlag erschienen ist, sein Führungsmodell, das man getrost revolutionär nennen darf. Wobei Führungsmodell eigentlich das falsche Wort ist, denn Semlers Unternehmen hat gar keine Führung.
Aber zunächst einmal zum Unternehmen selbst. Das Unternehmen ist beheimatet in Sáo Paulo und beschäftigt rund 3000 Mitarbeiter. Der Gewinn stieg von 4 Millionen US$ im Jahre 1982 (damals 90 Mitarbeiter) auf 212 Millionen US$ im Jahre 2003. Auffallend bei Semco ist der ständige Wandel der Geschäftsfelder, mit denen sich das Unternehmen beschäftigt.
Gegründet wurde Semco 1953 vom österreichischen Ingenieur Antonio Curt Semler. Zunächst wurden Zentrifugen für die Pflanzenölindustrie hergestellt. In den 1960iger und 1970iger Jahren arbeitete das Unternehmen fast ausschließlich für die brasilianische Marine und stellte Hydraulikpumpen, Achsen und andere Komponenten für den Schiffsbau her. In den 1980iger Jahren begann man Mischer für die chemische, pharmazeutische, Nahrungsmittel- und Bergbauindustrie zu bauen, später wurden auch Kühlanlagen, Klimageräte und Küchenmaschinen hergestellt.
Heute gliedert sich die Unternehmensgruppe in verschiedene Bereiche.
Pitney Bowes Semco ist ein Joint Venture mit der amerikanischen Firma Pitney Bowes Inc., ein Technologie-Unternehmen, das sich mit Kommunikationstechniken beschäftigt, welche "Mailstream" genannt werden. „Mailstream“ ist der gesamte digitale und physische Kommunikationsfluss, der bei einem Unternehmen anfällt. Pitney Bowes Inc. wurde in den Vereinigten Staaten im Jahre 1920 gegründet und ist derzeit weltweit führend in der Entwicklung von Lösungen, Verkauf und Wartung von intelligenten Systemen für die Verarbeitung und Automatisierung von Korrespondenz, Dokumenten, Paketen, etc. Das Unternehmen ist in mehr als 130 Ländern aktiv und macht einen Jahresumsatz von über fünf Milliarden Dollar. Es ist eines der wichtigsten Industrie-und Technologie-Unternehmen in den Vereinigten Staaten und hält über 3000 Patente.
Semco Capital Goods ist spezialisiert auf die Entwicklung und Herstellung von Systemen im Bereich Misch-und Kältetechnik und baut Produktionsanlagen für die Nahrungsmittel-, Getränke, Kosmetik-, Pharma-, Gießerei-, Bergbau-, Chemie-, Stahl-, Papier- und Zellstoffindustrie.
Semco Tarpon Investments wurde im Juni 2002 gegründet und ist eine der größten Vermögensverwaltungsgesellschaften (Fonds Management und Private-Equity) in Brasilien.
Schließlich gehört noch Brenco (Brazilian Renewable Energy Company) zur Semco-Gruppe, ein Unternehmen, das aus Zuckerrohr den Biokraftstoff Ethanol produziert. Im März konnte das Unternehmen an der Börse platziert werden und die Erstemmission brachte 200 Millionen US$ in die Kasse, die für die Entwicklung von Zuckerrohrplantagen genutzt werden.
Soviel zur Geschichte des Unternehmens. Noch viel interessanter ist jedoch die Umstellung in der Unternehmensführung, die Ricardo Semler im Jahre 1986 vornahm. Er begründete eine Unternehmensphilosophie, die völlig im Gegensatz zu den Praktiken stehen, mit denen heute viele Firmen ihre Mitarbeiter bespitzeln und überwachen. Bespitzelung bei Lidl
Nach seinem eigenen schweren körperlichen Zusammenbruch, der Ricardo Semler im Krankenhaus wieder aufwachen ließ, beschloss er sein Leben und das Leben seiner Mitarbeiter völlig umzustrukturieren. Für Semler war klar, dass die unmenschliche Arbeit und der damit verbundene Stress ihn krank und kaputt gemacht hatte, weshalb er nach neuen Wegen suchte.
Semler sieht seit dem seine Mitarbeiter nur noch als Menschen. Semco betrachtet seine Mitarbeiter nicht als Personal, sondern als Personen, die als Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben und diese auch für sich selbst organisieren können. Bei Semco wird auf Begriffe wie Personal, Angestellte oder Mitarbeiter verzichtet. Bei Semco arbeiten nur Menschen, weshalb ich im Folgenden möglichst auch nur diesen Begriff verwenden werde.
Bei Semco wird seit der Umstellung im Management alles in Gruppenarbeit organisiert. Wichtig ist, dass das Ziel der Gruppe erreicht wird. Hat irgendein Mensch des Unternehmens eine Idee oder ein Konzept, so lädt er über das Intranet der Firma per Rundmail ausnahmslos alle anderen Menschen zu einem Treffen ein. Kommen kann, wer will und interessiert ist. Niemand ist böse, wenn jemand nicht bei anberaumten Meetings erscheint oder ein Gruppentreffen vorzeitig wieder verlässt. Hat ein Mensch kein Interesse an einer Sache, ist er für die Aufgabe auch nicht motiviert und leistungsbereit. Bildet sich eine Gruppe für das Projekt, wird es in Angriff genommen und die Aufgaben entsprechend den Wünschen der teilnehmenden Menschen verteilt. Entscheidungen werden immer im Teamprozess getroffen. Vorgesetzte Gruppenleitermenschen und Entscheidungsträgermenschen, die auch bei Semco nötig sind, werden von den Gruppenmitgliedermenschen selbst gewählt und regelmäßig (alle sechs Monate) bewertet. Erfüllt der Gruppenleitermensch seine Aufgaben nicht zur Zufriedenheit der anderen, wird ihm das offen mitgeteilt und in der Regel gibt dieser die Gruppenleitung dann selbst wieder ab. Es ist ähnlich wie bei einer Basketballmannschaft, die zu Beginn der Saison ihren Kapitän wählt und ihn bei Unzufriedenheit jederzeit wieder abwählen kann.
Die Arbeitszeitgestaltung überlässt Semco den Menschen. Arbeitszeiten werden nicht vorgegeben und sind frei gestaltbar. Die Aufgabenteilung wird innerhalb der Teams abgesprochen. Arbeit kann durchaus auch von zuhause aus erledigt werden, wenn dieses möglich ist. Wichtig ist nicht, ob jemand 8-12 Stunden täglich in der Firma arbeitet und dort anwesend ist. Wichtig ist einzig und allein, dass das Ziel der Gruppe erreicht wird, ohne dass einem Gruppenmitglied vorgegeben wird, wieviel Zeit er dafür aufbringen muss. Niemand wird kontrolliert. Ist jemand müde, so ist erwünscht, dass der Mensch sich ausruht und ein Nickerchen im Ruheraum macht. Ein Mensch, der während der Arbeit fast einschläft, taugt nicht für produktive Prozesse. Der Mensch an sich steht bei Semco im Vordergrund, nicht die Arbeit. Geht es dem Menschen gut, kann er/sie auch gute Arbeit leisten.
23 Prozent des Unternehmensgewinn nach Steuern schüttet Semco an seine Menschen aus. Die Menschen bestimmen selbst über die Verteilung der Gewinnbeteilung und wer wieviel vom Unternehmensgewinn verdient. Streitereien kommen dabei kaum vor, denn auch hier wird in Gesprächen ermittelt, wie hoch das Gehalt eines jeden einzelnen zu sein hat. Dabei wird auch die persönliche Lebenssituation eines jeden einzelnen Menschen berücksichtigt. Was Politiker können, können wir schon lange, denkt man sich bei Semco.
Bei Semco ist es gern gesehen, wenn Menschen die Abteilungen und Teams wechseln, um sich selbst weiterzubilden. Neue Team- und Abteilungsmitgliedermenschen bringen frischen Wind und neue Ideen. Es macht keinen Unterschied, ob jemand neu oder schon lange dabei ist oder welche Stellung er innerhalb der Firma hat. Es ist wie bei einem Basketballteam: Auch wenn es deutliche Leistungsunterschiede innerhalb einer Mannschaft gibt, wichtig ist, dass jeder Spieler auf dem Spielfeld sein Bestes gibt und am Ende das Ergebnis stimmt.
Ein Grundsatz bei Semco ist, dass jeder Mensch offen und ehrlich seine Meinung sagen darf und auch soll, gleichzeitig aber auch seine Kollegenmenschen und deren Ansichten resspektiert. Vertrauen und nicht Kontrolle ist das Grundprinzip. Formalitäten sind bei Semco unerwünscht: Jeder darf jeden Menschen ansprechen und es ist gewünscht, dass alle frei ihre Meinung und Gefühle ausdrücken und eigene Gedanken und Ideen in die Firma einbringen. Mobbing, Unehrlichkeit und das Verbreiten von falschen Gerüchten über andere werden bei Semco durch die dort arbeitenden Menschen nicht geduldet. Die Fluktuation liegt bei sehr geringen 1 Prozent.
Eine Personalabteilung gibt es bei Semco nicht. Die Menschen in einem Team entscheiden selbst, ob ein neuer Mensch für eine nötige Aufgabe gebraucht wird. Wenn entschieden wird, für ein bestimmtes Projekt einen neuen Menschen einzustellen, so gibt die Gruppe eigenständig ein Inserat auf. Die Bewerber werden innerhalb der Gruppe interviewt und es wird gemeinsam entschieden, welcher Mensch am besten geeignet ist, um das Gruppenziel zu erreichen.
Menschen müssen bei Semco unbedingt ihren Jahrsurlaub nehmen. Firmen“chef“mensch Semler geht davon aus, dass jeder Mensch ersetzbar ist. Urlaub und Freizeit wird als sehr wichtig angesehen und Ricardo Semler ist überzeugt, dass arbeitslose Erholungszeit von grundlegender Bedeutung für die Gesundheit der Menschen und der Gesellschaft als Ganzes sind - keine Ausrede ist gut genug, um eine Nichtinanspruchnahme des Jahresurlaubs zu rechtfertigen.
Ricardo Semler interessiert es seit 25 Jahren nicht mehr, wo die Menschen gerade sind, die nicht im Büro sitzen oder an Maschinen stehen. Er lehnt es strikt ab, sich darüber einen Kopf zu machen. Es ist ihm egal, ob jemand seine Zeit vielleicht gerade mit der Familie oder beim Fußballspielen vebringt. Es interessiert ihn schlichtweg nicht, weil er es als irrelevant ansieht. Semler vertraut seinen Leuten und sieht in ihnen nicht Untergebene, sondern Menschen.
Jeder Mensch hat bei Semco jederzeit die Möglichkeit, die Buchhaltung einzusehen. Semco bietet Kurse an, damit Menschen, die neu im Unternehmen sind, die buchhalterischen Vorgänge verstehen lernen, um mit den Zahlen auch etwas anfangen zu können. Alle Menschen, die für Semco arbeiten sollen jederzeit über die (finanzielle) Lage des Unternehmens bestens unterrichtet sein.
Das Konzept Semlers funktioniert seit 25 Jahren. Die Zahlen des Unternehmens und die Zufriedenheit der Menschen, die für Semco arbeiten, sprechen für sich. Eigentlich ist es völlig unverständlich, dass in unserer Gesellschaft Unternehmen und Firmen völlig anders strukturiert sind, als zum Beispiel Familien und (Sport-)vereine, in denen in der Regel genauso verfahren wird, wie in Semlers Firma.
Wenn ich an meinen geliebten Fallschirmsportverein denke, so läuft es bei uns weitestgehend genauso ab, wie bei Semco. Jeder hilft, wo er kann, manche Dinge werden vergütet, andere Dinge wie zum Beispiel das Fegen der Packhalle nicht. Manche leisten unheimlich viel freiwillige, begeisterte Arbeit (Rolf!), andere (so wie ich) sind in ihrer Freizeit eher faul und haben keine Lust, die Vereinsküche aufzuräumen, - sind aber durchaus bereit, andere Dinge zu leisten, die dem Verein dienlich sind. Alles ist auf Respekt und Freiwilligkeit aufgebaut. Für anfallende, unabdingbare Organisationsarbeiten (Vorstand, Kassenwart, etc) werden Menschen gewählt, die sich dafür bewerben und diese Dinge aus freien Stücken machen möchten. Die Vereinsmitglieder bestimmen, ob für diese Arbeiten eine Vergütung bezahlt wird und über deren Höhe.
Ricardo Semler wurde 1990 vom Wall Street Journal zum lateinamerikanischen Geschäftsmann des Jahres gewählt. 1990 und 1992 wurde er als brasilianischer Geschäftsmann des Jahres geehrt.
Quellen & Links
- in Wikipedia (engl.): Semco