Wenn Märkte wirklich für Menschen arbeiten

Aus Nuevalandia
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Als Beispiel "zurückeroberter Gemeingüter" ein Artikel von Sunita Narain aus Wem gehört die Welt:

Manche Innovationen haben die Kraft, das Leben der Menschen zu verändern. Eines meiner Lieblingsbeispiele dafür sind von Kooperativen organisierte Milchsammelsysteme. In jedem Dorf gibt es eine Molkerei. Die Leute bringen ihre Milch dorthin, der Molker zieht eine Milchprobe zur Überprüfung des Fettgehalts und druckt am Ende eine Quittung aus, die dem Verkäufer Auskunft über den Fettgehalt und den Preis gibt. Einmal pro Woche tauschen die Milchverkäufer ihre Quittungen gegen Bargeld ein. Da es in den meisten Dörfern keinen Strom gibt, werden die Geräte und Computer mit Dieselgeneratoren betrieben. Die Milch wird jeden Tag vom Lastwagen der Kooperative eingesammelt und zum Verkauf in die nächstgelegene Stadt gebracht.

Im Nordwesten Indiens, im trockenen Bundesstaat Rajasthan, konnte ich mit ansehen, wie dieses System funktioniert. Gegen Abend brachten die Dorfbewohner die Milch zur Molkerei – was sie der Notwendigkeit enthebt, ihre Milch selbst zum nächsten Markt zu transportieren. Die Milch wurde geprüft, und sie bekamen ihre Quittungen ausgehändigt. Ob sie, fragte ich, die Zahlen auf den auf Englisch geschriebenen Quittungen entziffern könnten? Nun, sie beherrschten zwar die Sprache nicht, aber sie konnten ihre Quittungen lesen. Und die Zahlen sprechen für sich: Ein Büffel gibt pro Tag rund fünf Liter Milch. Pro Liter bekommen die Leute zwischen 15 und 25 Rupien, je nach Fettgehalt. Selbst die ärmsten Bauern, solche, die nur einen Büffel haben, bekommen das. Sie erhalten das Geld vor Ort, in ihrem Dorf. Eines der Dörfer, das ich besuchte, Laporiya, leidet seit neun Jahren unter anhaltender Dürre. 1997 ging in der Gegend laut Wetteraufzeichnungen der letzte richtige Monsun nieder, es fielen 700 mm Regen. Seitdem schwankt die Regenmenge zwischen 300 bis 400 mm, die zumeist in Form einiger weniger Wolkenbrüche auf die Erde prasseln. In einer solchen Situation werden Nutztiere zum Rückgrat der lokalen Wirtschaft. Die Viehwirtschaft ist weniger risikoanfällig als die Landwirtschaft. Gerade in schwierigen Zeiten ist die Milchgenossenschaft ein lebenswichtiges Glied – ein Glied, das die Menschen mit dem Markt verbindet und ihnen hilft, mit dem Mangel zurechtzukommen.

So schlicht und unbedeutend dieses System auch aussieht – Marktteilnehmer und Händler müssen verstehen, dass es dies keineswegs ist. Weil in die Produktivität des dem ganzen Dorf gehörenden Weidelands investiert wird, profitieren in besonderem Maße die ärmsten und am stärksten marginalisierten Menschen davon. Und eben das ist von entscheidender Bedeutung, weil Nutztiere Futter benötigen und Futtermittel in Dürrezeiten meist Mangelware ist. Je weniger Futter eine Kuh aber bekommt, umso weniger Milch gibt sie. Mit anderen Worten, diese Investitionen dienen dem Aufbau einer zentralen, für das Funktionieren der Märkte entscheidenden Infrastruktur.

Ganz Indien leidet unter einer dramatischen Futtermittelknappheit. Wenn es Land gibt, aber kein Wasser, um es zu bewässern, können die Bauern keine Feldfrüchte anbauen und haben somit auch keine Erntereste, die sie an die Tiere verfüttern könnten. Statt sie produktiv zu nutzen, wird an den Weide- und Waldflächen Raubbau betrieben. In den meisten Regionen geben die Dorfbewohner, mit denen ich gesprochen habe, im Durchschnitt zwischen 12.000 und 20.000 Rupien ihres knappen Einkommens für den Zukauf von Futter aus. Gleichzeitig entzieht sich der Futtermittelmarkt der Politik. Indien kennt keine staatliche Futtermittelpolitik. Es wird nichts unternommen, um Weideflächen zu schützen oder die Produktivität von Wäldern als Futtermittellieferant zu verbessern. Nutztiere gelten zwar weder als ineffizient noch als Verschwendung. Aber woher ihr Futter kommt, hat für niemanden Priorität. Das ist die »andere« Nahrungsmittelkrise: Die Gemeindeweiden, auf denen Vieh grasen konnte, sind über die Jahre stark geschrumpft, Wälder waren das einzige noch verbliebene Gemeindeland. Die Förster aber sehen die Nutztiere dort als biotische Konkurrenten, die die Regeneration des Waldes behindern und die sie deshalb nach Möglichkeit aus ihren Wäldern fernhalten. Das mag nicht ungerechtfertigt sein. Aber es muss auch anerkannt werden, dass in Indien Nutztiere auf die Wälder ebenso angewiesen sind wie wild lebende Tiere. Wir brauchen eine klare Politik zur Lösung dieser anderen Nahrungsmittelkrise. Wir müssen unsere vernetzten Gemeinressourcensysteme schützen. Wir müssen Antworten finden. Die Dorfbewohner in Indien müssen Antworten finden.

Weil sie mit dem Gemeindeweideland verbunden ist, bleibt die Milchsammelstelle in Laporiya auch in Dürrezeiten in Betrieb. In diesem Dorf und seiner Nachbarschaft setzt sich die NGO Gram Vikas Navyuvak Mandal intensiv dafür ein, Gemeindeweideland zurückzugewinnen, das von Privatpersonen reklamiert wurde. Traditionell werden diese Allmenden vom Gram Panchayat, dem Dorfrat, verwaltet, doch über die Jahre hinweg wurde ein Großteil dieser Flächen schleichend privatisiert – aber nicht von den Armen, sondern von den Reichen und Mächtigen. Der Kampf um die Rückgewinnung der dörflichen Gemeindeweiden ist schwierig. Die Gesetze, die solche Flächen schützen, sind schwach, die Behörden zumeist hilflos. Aber ohne nachhaltig bewirtschaftetes Gemeindeland lässt sich kaum privater Gewinn erzielen, schon gar nicht von den Armen. Die Rückgewinnung der Allmende stellt dabei den ersten Schritt zur Reaktivierung dieser Flächen dar. Mit dem traditionellen »Chouka«-System ist in diesen Dörfern eine faszinierende Technik wieder belebt worden, um den wenigen Regen, der hier fällt, aufzufangen und das Weideland zu verbessern. Die Dorfbewohner legen ein Netz aus rechteckigen, Viertelmeter tiefen Gräben an, die den Regen zurückhalten und in dem das Wasser von einem Graben in den nächsten und schließlich in einen Speicher fließt. Durch dieses System hat sich das Gemeindeland des Dorfes in ein einziges, großes Regenwassersammelgebiet verwandelt (siehe: rainwaterharvesting.org).

Ziel ist es, das gesamte Dorf in eine Regensammelanlage zu verwandeln, damit der Grundwasserspiegel wieder steigt und Dürreperioden besser überstanden werden können. Die Dorfbewohner im benachbarten Sihalsager haben bereits so gut wie jeden Flecken Allmende zur Regenrückhaltung umgestaltet, drei große und 25 kleine Teiche ausgehoben und das Weideland mit Choukas überzogen. Jedes Feld wird von einem Damm gesäumt und jeder Regentropfen zurückgehalten und geerntet. Selbst jetzt, wo die umliegenden Dörfer auf dem Trockenen sitzen, hat Sihalsager dank des neuen Sammelsystems Wasser – und das, obwohl seit Beginn des Projekts in der Gegend nicht ein einziges Mal heftig Regen fiel. Mit anderen Worten, selbst wenn es nur wenige Niederschläge gibt, könnten diese, wenn sie aufgefangen werden, für ein Auskommen sorgen. Anschließend geht es darum,jeden Regentropfen möglichst produktiv zu nutzen. Wenn das knappe Wasser für die Bewässerung von Feldfrüchten verwendet wird, profitieren nicht alle davon, sondern nur einige wenige. Außerdem fördert der Feldfruchtanbau das Absinken des Grundwasserspiegels, weil die Bauern immer tiefer graben, um Wasser für ihre Felder zu bekommen – ein System, das auf Dauer nicht nachhaltig sein kann. Wird dieses Wasser stattdessen zur Milcherzeugung verwendet, dann wird der knappen Ressource ein Mehrwert hinzugefügt.

Wird diese Milch dann lokal weiter verarbeitet (und damit nochmals Mehrwert erzeugt), profitiert die lokale Wirtschaft noch mehr davon. Der Markt funktioniert – aber nur, wenn man versteht, wie diese Politik der Knappheit funktioniert. In der kleinen Molkerei von Laporiya habe ich etwas gelernt: Letztes Jahr, nach neun Jahren anhaltender Trockenheit, in denen etwa 300 mm Regen fielen, verkaufte das Dorf mit seinen 300 Haushalten Milch im Wert von 175.000 Rupien. Das ist eine wertvolle Lektion gewesen, eine, die ich nicht so schnell vergessen werde.

Dieser Artikel erschien erstmals auf Englisch in: Science and Environment Online, Down to Earth, Juli 2007[1].